Stiftungsvermögen und das G-Dilemma

Moral vs. Rendite – tatsächliches Problem oder Schein-Gegensatz?

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Das G-Dilemma
Lesezeit: 6 Minuten

Stiftungsvermögen ist momentan stärker als bislang womöglich mit einem Governance-Dilemma konfrontiert. Dieses wiederum ist Teil eines besonders unübersichtlichen Umfelds, in dem Stiftungen derzeit investieren. Der russische Angriff auf die Ukraine wirft ja nicht nur aktuelle Fragen auf, sondern zwingt Stiftungen den Blick zu weiten. Governance-Fragen werden plötzlich gewichtiger, G kommt bei ESG auf einmal vor E. Eine Einführung als Plädoyer für Integrität.

Veränderte Realität mit Professionalität meistern

Über das Verbrecherische, das Unfassbare, die Barbarei des Krieges in der Ukraine muss an dieser Stelle nichts mehr geschrieben werden. Das ändert aber nichts an der Notwendigkeit, dass Stiftungen mit Professionalität die veränderte Realität am Kapitalmarkt bewältigen müssen. Diese Herausforderungen lassen sich aktuell in drei Stufen klassifizieren:

  1. Die direkte Russland-Auswirkung
  2. Der Run auf Aktien mit kohlenstoffbasierten Geschäftsmodellen sowie aus dem Bereich Rüstung
  3. Der Blick nach vorne: Um Antworten, wie man künftig mit totalitären Systemen wirtschaftlich/investiv umgeht, kommt kein Anleger und damit keine Stiftung mehr herum.

Das bedeutet gleichzeitig unaufschiebbare und unabwendbare Arbeit für Stiftungsverantwortliche. Denn, so beauftragt, ein Vermögensverwalter kann entsprechend am Markt agieren, er benötigt aber die klare Vorgabe der Stiftung. Die sind einstweilen auf sich allein gestellt, denn die Fondsanbieter sortieren sich noch, wie eine Umfrage ergab. Dazu später mehr.

Unternehmen stehen in der Verantwortung

Nach Kriegsausbruch konnte man die sehr unterschiedliche Reaktion der Konzerne beobachten: Einige brachen sofort jegliche wirtschaftliche Beziehungen zu Russland ab, indem der Verkauf eingestellt, die Produktion stillgelegt oder die Dienstleistung abgebrochen wurde. Andere lavierten herum, zogen sich dann aber doch zurück. Zahlreiche Unternehmen haben ihr Geschäftsmodell jedoch nicht geändert und sind weiterhin in Russland aktiv. Die „List of Shame“ der Universität Yale, geführt von Professor Jeffrey Sonnenfeld und seinem Team, ist ausgesprochen lang, und es stehen nicht nur Unternehmen aus Schurkenstaaten darauf. Vielmehr fällt auf: Zahlreiche Unternehmen aus den USA (z.B. Amgen, Medtronic, Stryker), Italien (z.B. Benetton, Calzedonia, Armani), Österreich (z.B. Raiffeisenbank International, Schoeller Bleckmann, Wienerberger), Frankreich (Bic, Veolia, Vinci, Bonduelle), Schweiz (z.B. Oerlikon, Liebherr, Sika, SGS) und auch Deutschland (z.B. Infineon, Hoffmann Group, Vaillant) sind weiterhin in Russland aktiv.

TV-TIPP:
Darüber, wie sich Stiftungen im aktuellen Kapitalmarktumfeld wappnen und ihr Stiftungsvermögen resilienter machen, sprachen wir beim 3. Virtuellen Tag für das Stiftungsvermögen mit zahlreiche Stiftungsentscheiderinnen und -entscheidern. Die komplette Mediathek finden Sie hier.

Risiken des Verbleibs in Russland sollten Investoren nicht tragen

Die Risiken des Verbleibs in Russland sollten Investoren hierzulande nicht tragen. Dabei ist zunächst das Reputationsrisiko zu beachten. Nach allem, was bereits heute bekannt ist, begeht Russland unzählige, beweisbare Kriegsverbrechen. Die Arbeit internationaler, unabhängiger Strafverfolger wird zu einem steten Strom an Nachrichten diesbezüglich führen. Dies bedeutet, dass der gesellschaftliche Druck auf die Unternehmen hoch bleiben wird, was Boykottaufrufe nur zu einer Frage der Zeit macht. In langen Artikel sowohl in der New York Times als auch der Washington Post erläutert der Wirtschaftswissenschaftler, dass Unternehmen, die weiterhin in und mit Russland Geschäfte machen, vom Kapitalmarkt dafür abgestraft werden: „Jene, die sich weigern Russland zu verlassen, werden erfahren, dass sie die höchsten Kosten zu tragen haben.“ Es spricht nichts dagegen, die List of Shame mit der Portfolioliste der investieren Fonds zu vergleichen – und bei Überschneidungen den Fondsmanager um eine klare Stellungnahme zu bitten.

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An konkreten Beispielen mangelt es nicht

Sonnenfeld nennt als Beispiel die französische Societé Generale, deren Notierung um 5% gestiegen ist, nachdem die Bank den Rückzug aus Russland und damit verbundenen Abschreibungsbedarf in Höhe von 3,4 Mrd. EUR verkündet hatte. Eine Untersuchung der Yale-Universität erbrachte zum Stichtag 8. April 2022, dass Unternehmen, die sich vollständig aus dem Geschäft mit Russland zurückgezogen hatten, im Kurs im Schnitt um etwa 4% zugelegt hatten. Demgegenüber verloren Unternehmen, die business as usual mit dem Aggressor betreiben, mehr als 5% an Börsenwert. Im Ausblick lassen die Yale-Experten keinen Zweifel, dass sie das weitere Auseinanderklaffen der Schere erwarten. Diese harten Zahlen zeigen, dass Moral durchaus langfristig zu denken ist. Was ist Moral? Für den Kapitalmarkt trifft es die Definition des Sprachwissenschaftlers Jacek Orlowski aus dem Jahr 1964: „Ehrlich zu sein, wenn sich Unehrlichkeit nicht lohnt, ist eine logische Kosten-Nutzen-Analyse, keine Moral. Moral fängt erst da an, wo sich das Ehrlichsein nicht lohnt und man trotzdem ehrlich bleibt.“

Der Kapitalmarkt – tatsächlich ein Hort der Moral?

Die Yale-Untersuchung ist natürlich lediglich eine Momentaufnahme zum angegebenen Datum, und mit ihr lässt sich auch nicht herleiten, dass es am Kapitalmarkt auf einmal moralisch zugehen würde. Die Untersuchung zeigt vielmehr, dass eine Funktionalität weiterhin gilt, und zwar, dass an der Börse Zukunft gehandelt wird. Auf der Ebene der Unternehmensbilanzen führt der Rückzug aus Russland zunächst einmal zu Umsatzeinbußen und Sonderkosten. Auf lange Sicht jedoch zahlt sich der Rückzug aus, davon jedenfalls ist der Kapitalmarkt überzeugt. Von daher ist es keine moralische Entscheidung, sondern eine höchst ökonomische, und zwar in die Gewinner von morgen zu investieren. Dabei gilt es zu beachten: Die Berechnung ist insoweit verzerrt, als kein Nachhaltigkeitsfilter angewandt worden ist. Das bedeutet: Die globalen Energieunternehmen, Minenbetreiber und deren Dienstleister profitieren so deutlich von den hohen Rohstoffpreisen, dass kurzfristig selbst hohe Abschreibungen durch den Rückzug oder die Aufkündigung von Joint Ventures ausgeglichen werden können.

Bei Gewinnen der Energiemultis und Rüstungsunternehmen an der Seitenlinie stehen?

Mehrere Meta-Studien hatten zuletzt gezeigt, dass nachhaltige Investments nicht nur keine Rendite kosten, sondern sich in vielen Marktsituationen deutlich besser entwickelt haben als der Gesamtindex inklusive Carbon-Geschäftsmodellen. Das galt auch für die in vielen Portfolios ausgeschlossenen Rüstungsunternehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber festzustellen, dass zumindest mittelfristig diese „unloved childs“, wie TBF-Fondsmanager Peter Dreide sie nennt, deutlich outperformen werden – sowohl im Kurs als auch in der Dividende. Anpassungen hat es in Stiftungsportfolios gegeben, vor allem Minenunternehmen, die zumindest in ihrem Bereich best-in-class sind, was die Achtung von ESG-Standards angeht (siehe hier beispielsweise beim Metzler Europeam Dividend Sustainable). Insgesamt kann es aber nicht die Reaktion von Stiftungen sein, die ESG-Ausrichtung grundsätzlich in Frage zu stellen, auch wenn mittelfristig hohe Gewinne locken. Insoweit ist dieser Text auch ein Plädoyer für Integrität, wenngleich natürlich jede Stiftung ihren eigenen Weg finden muss. Siehe dazu auch hier.

Fondsanbieter suchen noch nach neuer Strategie

Bleibt noch der Blick in die Zukunft. Fondsanbieter sind von der Situation einigermaßen kalt erwischt worden. Die meisten jedenfalls. Die sich aufdrängende Frage: Welche Schlüsse zieht man beim Management bestehender Fonds und dem Design künftiger Sondervermögen? Eine kleine Umfrage von stiftungsmarktplatz.eu zeigt: Sowohl die großen Anbieter als auch kleine Fondsboutiquen kreißen gerade, die Niederkunft dürfte aber noch dauern. Wie betrachtet man China künftig? Welche Position nimmt man grundsätzlich bei autoritären Regimen ein? Wird das „G“ in ESG genauso wichtig wie das „E“? Antworten blieben häufig unter dem Verweis aus, die entsprechende Strategie werde gerade entwickelt, derzeit könne man keine Antworten geben. Mitunter wurde betont, dass man bis auf weiteres keine russischen Aktien mehr kaufen werde. Und wenn es Antworten gab, waren sie Versatzstückchen aus dem Marketing-Lehrbuch der Allgemeinplätzchen. Eine Reihe von Gesellschaften ließ Fragen sogar ohne jede Reaktion gänzlich unbeantwortet.

Wie immer gibt es auch positive Ausnahmen: Die GLS Bank

Es ist klar, dass neue Strategien nicht über das Knie gebrochen werden können, wir werden zu gegebener Zeit wieder nachfragen. Ausführlich hat die GLS Bank geantwortet, die mit dem GLS Aktienfonds im Club der 25 der Fondsfibel vertreten ist. Folgend die Stellungnahme:

Kann man rückblickend sagen, dass ein striktes ESG-Management Fonds geholfen hat, direkte negative Auswirkungen durch russische Titel zu vermeiden? Welche Erfahrungen hat die GLS-Bank gemacht?

Generell verurteilen wir diesen Krieg und stehen in voller Solidarität hinter den Menschen in der Ukraine. Auch die russische Bevölkerung, die von der Regierung in diesen Krieg gezwungen wurde, ist in unseren Gedanken. Aufgrund des Verstoßes gegen unsere Ausschlusskriterien waren Staatsanleihen von Russland zu keiner Zeit Teil des GLS Anlageuniversums. Generell gibt es in vielen Staaten mit geringen Nachhaltigkeitsbestrebungen oder Verstößen gegen unsere Länder-Ausschlusskriterien durchaus nachhaltige Unternehmen. Ein genereller Ausschluss von Unternehmen auf Länderbasis kommt für uns daher nicht in Frage. Die von uns beratenen Fonds sind dennoch weder in russischen, belarusischen noch ukrainischen Unternehmen investiert. Kein Unternehmen aus diesen Ländern befindet sich im Anlageuniversum. Der Hauptgrund ist der starke Fokus der Wirtschaft dieser Länder auf aus unserer Sicht nicht nachhaltige Branchen und Sektoren.

Aber es gibt ja hiesige Unternehmen, die in Russland produzieren.

Ja, vereinzelt haben Unternehmen, in die wir investieren, Produktionsstätten oder Standorte in Russland, Belarus oder der Ukraine. Zudem pflegen Unternehmen Handelsbeziehungen in den russischen beziehungsweise ukrainischen Markt. Insofern sind diese Unternehmen indirekt durch die Auswirkungen des Krieges sowie durch die globalen Sanktionen gegenüber Russland betroffen. Wir haben diese Unternehmen näher analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass die wirtschaftlich negativen Effekte für diese Unternehmen aufgrund der aktuellen Situation mittel- bis langfristig gering ausfallen.  

Blick nach vorne: Zahlreiche Länder, insbesondere China und Indien, vermeiden die Verurteilung des Angriffskriegs sowie russischer Kriegsverbrechen. Was bedeutet das für die ESG-Bewertung dieser Länder (z.B. für Staatsanleihen) bzw. Unternehmen aus diesen Ländern? Welche Konsequenzen zieht die GLS Bank daraus? Welche Überlegungen gibt es dazu langfristig?

Durch unsere strikten Ausschlusskriterien und unsere indikatorenbasierte Nachhaltigkeitsbewertung von Staaten haben wir bereits jetzt Systeme installiert, die die Aufnahme derartiger Länder in unser Anlageuniversum verhindern. China ist nach Freedom House ein unfreies Land, vollzieht die Todesstrafe, verletzt systematisch Menschenrechte und baut Atomkraft aus. Auch in Indien wird die Todesstrafe vollstreckt. Zudem ist in Indien ein sehr hohes Maß an Korruption üblich. Die Praxis zeigt, dass unsere Systeme und Bewertungen funktionieren: Kein Staat aus dem GLS Anlageuniversum hat sich bei der Resolution zur Verurteilung des Krieges in der Vollversammlung der Vereinten Nationen enthalten, nicht abgestimmt oder diese abgelehnt. Sowohl China als auch Indien sind nicht Teil des GLS Anlageuniversums.

Welche Strategie, welche grundsätzliche Sichtweise empfehlen Sie Stiftungen, um aktuell und zukünftig Governance-Risiken zu minimieren? Was können, was sollten Stiftungen tun?

Viele Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass Governance-Aspekte relevant sind für den Erfolg und die Wirkung von Unternehmen. Daher ist es bei der Vermögensanlage sehr wichtig, diese neben Umwelt- und sozialen Fragen (ESG) zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sollten die bestehenden Investments auch kritisch hinterfragt werden. Stiftungen sollten Ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Vermögensanlage in Anlagerichtlinien festhalten und diese auch regelmäßig überprüfen. Gerade die ESG-Aspekte sollten hier auch Berücksichtigung finden, um Klarheit auch für die in den Stiftungen mit der Vermögensanlage betrauten Menschen zu haben beziehungsweise zu schaffen.

Zusammengefasst

Der Diskussionsprozess hat gerade erst begonnen, aber es ist deutlich abzusehen: Investieren nach dem 24. Februar 2022 wird sich vom Investieren vor diesem Datum unterscheiden. Stiftungen müssen aktiver als je zuvor definieren, in welche Sektoren – und vor allem welche Länder – sie (bzw. die von ihnen selektierten Stiftungsfonds bzw. stiftungsgeeigneten Fonds) investieren wollen. Und wo nicht.