Wer sich mit Kambodscha ein wenig eingehender beschäftigt, der kommt an der Geschichte des Landes nicht vorbei. Vietnamkrieg, das Regime der Roten Khmer und der Bürgerkrieg brachten Not und Elend in das Land. Vor allem die Landminenproblematik sowie die weitreichenden Hungersnöte waren Ergebnisse dessen und riefen Hilfsorganisationen auf den Plan. Handicap International wurde 1982 zur Lösung dieser Probleme gegründet, anfangs als Nothilfeorganisation. Heute leistet Handicap im Land aber weitaus mehr. In Kampong Cham kann man dies mit eigenen Augen begutachten.
Kampong Cham ist ein kleines Bezirksstädtchen nordwestlich der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Es ist fast genauso wuselig wie andernorts, und an vielen Stellen wird gebaut, entstehen Straßenkreuzungen oder werden Lebensmittel auf den typisch asiatischen Märkte zum Kauf angeboten. Kampong Cham ist für Handicap International jedoch so etwas wie die Wurzel allen Engagements, hier wurde einst 1982 das Flüchtlingscamp gegründet, in dem Zehntausende Kambodschaner notversorgt wurden. Nothilfe, das hieß damals das Versorgen von Brandwunden, von Sprengverletzungen, auch Amputationen mussten vorgenommen werden, so ein Patient auf eine Mine getreten war. In Kambodscha wurden in den Jahren der vielfältigen Auseinandersetzungen und Zäsuren mehr als 10 Mio. Landminen vergraben, noch heute sprechen Dunkelziffern von 4 Mio. Landminen, die im Boden zu finden sein sollen. Ein Wahnsinn, wenn man bedenkt, wie viele Anstrengungen schon unternommen wurden, um die Gefahr ein für alle Mal auszumerzen. Immer noch gibt es Minenopfer im Land, mittlerweile überwiegt jedoch die Zahl der Unfallopfer.
NOTIZEN AUS KAMPONG CHAM
Unfallopfer, ja richtig. Der wachsende Wohlstand in Kambodscha bringt es mit sich, dass immer mehr Kambodschaner mit einem Moped unterwegs sind. Und unterwegs ist hier ein relativer Ausdruck, denn Kambodscha scheint dauerhaft auf der Suche nach dem ersten Michael Schumacher Kambodschas zu sein. Es wird links überholt, es wird permanent geblinkt, es wird an PKWs vorbei auf der Innenbahn zügig abgebogen, es wird schlichtweg gefahren was das Zeug hält. Immer häufiger zieht das jedoch die Konsequenzen schwerer Verletzungen und Frakturen nach sich, was wiederum Behandlungen etwa im Rehabilitationszentrum von Handicap International in Kampong Cham zur Folge hat. Dortselbst biegt man von der Hauptstraße links weg, dann sind es noch etwa 500 Meter und man erblickt an einem Zaun das Schild von Handicap International. Die Fahrzeuge werden im Innenhof geparkt, neben dem Willkommenscounter. Hier werden die Patienten dann auch tatsächlich in Empfang genommen, es wird genau gefragt, was der Patient für Beschwerden hat, was schon gemacht wurde, und es wird aufgeklärt, was möglich ist.
MENSCHEN WIRD EFFEKTIV GEHOLFEN
Während unseres Besuchs in Kampong Cham kam eine ältere Dame an, deren Geschichte just in diesem Moment aufgenommen wurde. Sie saß dort geduldig und beantwortete die Fragen. In einem Schrank neben dem Empfangsschreibtisch sind die Prothesen zu finden, sie helfen bei allen Gebrechen an den Gliedmaßen. Bei einigen Gebrechen scheint es auch nach wie vor die Unterernährung während der Schwangerschaft zu sein, immerhin können Deformierungen bis zum Alter von 4 Jahren bei Kindern auftreten. Die Dokumentation der Gebrechen bzw. der Patientengeschichten ist beeindruckend, eine solche Datendichte ist aber auch wichtig, um ein Bild von Entwicklungen zu haben. Mittlerweile konnte mehr als 9.000 Menschen im Rehabilitationszentrum geholfen werden, und genau diese Patientengeschichten erzählen die unzähligen Akten.
AUF DEM ÜBUNGSPARCOURS HERRSCHT HOCHBETRIEB
Ein kleiner, sonnenüberflutete Innenhof mit zwei Schatten spendenden Bäume an den Ecken fallen danach ins Auge, und auch der Übungsparcours, der so vor der Sonneneinstrahlung geschützt wird. Jeder Patient in Kampong Cham bekommt seine Prothese individuell angepasst, muss diese aber ausprobieren, und genau dafür ist der Parcours gedacht. Die Besonderheit ist, dass der Parcours verschiedene Untergründe und Begebenheiten simuliert, was wichtig ist, da die Prothese einfach perfekt oder nahezu perfekt passen muss. Auf einer kleinen Rampe überholt uns eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. Sie wirkt erleichtert, weil ihrem Kind geholfen werden kann im Rehabilitationszentrum in Kampong Cham. Nach der Rampe ist man auf einem kleinen überdachten Balkon oder vielleicht doch besser Gang, auf der einen Seite stehen Bänke zum Ausruhen und Verweilen, auf der anderen Seite sind verschiedene Türen zu sehen. Dort steht dann auf Schildern angeschrieben: Social Workers Room, Working Space. Hier wird also an den Prothesen gearbeitet. Und zwar richtig.
PROTHESEN ANPASSEN IST RICHTIGES HANDWERK
Die Werkstatt ist gut bis sehr gut ausgestattet, zwei Handvoll Arbeitsstationen dienen dazu, die aus Gips geformte Prothese auf den Bedarf des Patienten anzupassen. Dafür wird viel gehobelt, geschliffen, gefeilt, auf dem Boden sieht man die Fliesen vor lauter Gipsstaub nicht mehr. Hier geht es richtig zur Sache. Das Austarieren einer Prothese ist filigranes Handwerk, davon zeugen die Spuren in der Werkstatt. Gleichzeitig ist aber auch die Freude derer zu spüren, die hier arbeiten. Sie haben Spaß an ihrer Arbeit, auch weil sie ihren Landsleuten helfen, ein wieder selbst bestimmtes Leben zu führen. Dazu wird jede Prothese in ein Gestell gespannt, nach unten hängend. Dann wird auf Basis der per Hand mit einer Skizze modellierten Passform mit Gewichten ausbalanciert. Das ist sehr feines Handwerk an der Stelle, aber es zeigt sich hier warum die Prothesen bzw. das Tun im Rehabilitationszentrum im Kampong Cham so anerkannt sind.
Langsam spricht sich das Ganze auch herum, die kambodschanische Regierung duldet die Aktivitäten, vor allem aber spricht sich die Möglichkeit, sich hier effektiv helfen zu lassen, sukzessive im ganzen Land herum, und eben nicht nur in der Region rund um Kampong Cham. Errichtet wurde das Zentrum 1982, um Minenopfer aus dem eigenen Land aber auch Flüchtlingen mit den gleichen Gebrechen aus anderen Ländern zu helfen. Was also als Not- bzw. Katastrophenhilfe begann, entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem anerkannten Rehabilitationszentrum, dem die Menschen in Kambodscha Vertrauen schenken.
ZUSAMMENGEFASST
Das Rehabilitationszentrum von Handicap International in Kampong Cham ist ein Beleg dafür, wie nachhaltig relevantes Engagement einer Hilfsorganisation aussehen muss. Hier werden große Probleme gelöst, über eine lange Dauer, es wird Vertrauen geschaffen, und das Engagement selbst durchlebt Entwicklungsstufen, wird also an sich ändernde Rahmenparameter angepasst. Bei alldem bleibt eines haften, erst recht, wenn man aus Kampong Cham wieder abfährt: Die Menschen, denen hier geholfen wurde, wurde so etwas wie ein zweites Leben geschenkt, wofür sie einfach dankbar sind. Unendlich dankbar. Kambodschaner haben erfahren, dass sie nicht allein sind in der Welt, dass die Weltgemeinschaft ihnen hilft, dass Hilfsorganisationen wie Handicap International effektiv helfen. Und vielleicht ändert diese Erfahrung aus der Vergangenheit ja das Mindset für die Zukunft. Zu wünschen wäre es dem Land und den Menschen.
Die Projektreise mit Handicap International nach Kambodscha vom 20.11. bis 30.11.2019 macht mit Siam Reap und Phnom Penh in den beiden wichtigsten Städten des Landes Station. Vor Ort konnte Tobias Karow sich einen umfassenden Eindruck der Projektarbeit von Handicap International in Kambodscha verschaffen.