Europa wird für selbstverständlich gehalten, bzw. Vieles in Europa wird für selbstverständlich gehalten, aber genau das ist es nicht. Davon konnten wir uns anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises überzeugen, in Berlin, im Französischen Dom am Gendarmenmarkt. Preisträger der von der Deutschen Nationalstiftung vergebenen und mit 30.000 EUR dotierten Auszeichnung war in diesem Jahr der Künstler Anselm Kiefer. Die Laudatio auf dessen Schaffen hielt kein Geringerer als Bundeskanzler Olaf Scholz.
Immer wenn Amtsträger aus der Politik einer Veranstaltung beiwohnen, ist es drumherum etwas hektisch. Das hat viel mit den Erwartungen zu tun, dass alles funktioniert, aber natürlich auch mit den Sicherheitsmaßnahmen. Aber, das Ganze gestaltete sich an diesem 6. Juli recht problemlos, die Eventmaschine lief wie am Schnürchen. Pünktlich um kurz nach elf schneite Olaf Scholz in den Saal im Französischen Dom herein, alle erhoben sich und begrüßten den hohen Gast freundlich. Was ich dann aus den Worten der Laudatoren, zu denen Olaf Scholz gehörte, heraushörte, machte mich aber nachdenklich. Denn denken die Menschen heute an Europa, dann kommen sie augenscheinlich immer öfter ins Nachdenken. Drei Gedanken möchte ich mit Ihnen teilen.
Hintergrund zum Deutschen Nationalpreis, der mit 30.000 EUR dotiert ist und von der Deutschen Nationalstiftung verliehen wird: Seit 1997 ehrt die Stiftung Personen und Organisationen, die sich herausragend für diese Ziele engagieren, mit dem Deutschen Nationalpreis und dem Förderpreis. Preisträger des Deutschen Nationalpreises 2023 ist der deutsche Maler und Bildhauer Anselm Kiefer, den Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung 2023 wurde an zwei Chorprojekte in Frankreich und Deutschland vergeben, einmal das Musik-Bildungsprogramm Démos der Paris Philharmonie sowie das Projekt Hangarmusik, das 2016 von Leila Weber und Andreas Knapp in der Notunterkunft für Geflüchtete im ehemaligen Flughafen Tempelhof Berlin gegründet wurde.
Europa ist nicht selbstverständlich
Sylvie Goulard, Senatsmitglied der Deutschen Nationalstiftung, brachte es in meinen Augen auf den Punkt. Europa ist nicht selbstverständlich. Europa ist mehr als nur spröde Regeln. Europa, das ist eine Erfolgsgeschichte der Annährung zwischen Menschen, Völkern und Staaten, die 1948 begann – also noch vor der Gründung der Bundesrepublik. Mitten in den Ruinen, die der Zweite Weltkrieg hinterließ, gab es eben jene Menschen die sagten, dass es so nicht weitergehen könne. Europa, das müsse ein Hort von Rechtsstaatlichkeit, Frieden und auch Prosperität geben, denn genau dieser Dreiklang gebe jungen Menschen eine Perspektive an die Hand, gebe den Menschen allgemein eine Idee von Heimat und von Verbundenheit an die Hand. Dieses Europa aber, und da waren sich Vordenker nach dem Zweiten Weltkrieg klar, gibt es nicht geschenkt. Eigentlich, und hier blickte Sylvie Goulard in die Gesichter der anwesenden Gäste, Europa sei eigentlich ein Wunder.
Wider der Geschichtsvergessenheit
Buchautor, Journalist und Kunsthistoriker Florian Illies wies in seiner Einordnung des Werkes Anselm Kiefers auf die Geschichtsvergessenheit der Deutschen hin. Anselm Kiefers Verdienst sei es, den Deutschen immer wieder den Spiegel als fortwährende Provokation vorzuhalten, damit sich eben keiner die Hände in Unschuld waschen könne. Sein Werk sei eine ewige Metamorphose gewesen, um auf die fluide Geschichtlichkeit hinzuweisen bzw. die Sprengkraft von Geschichte hinzuweisen. Es sind Wort, die einen packen, so ging es mir jedenfalls. Wer den Blick drei Stunden gen Osten richtet und sich den Schauplatz Ukraine anschaut, dem wird schnell deutlich, Bundeskanzler Olaf Scholz nannte es das Freilegen der Geschichte – und fügte mit Blick auf die Ukraine einen recht scharfen Satz hinzu. Sollte Putin geglaubt haben, die Ukraine könne mit Bomben davon abgehalten werden den Weg Europas zu beschreiten, dann habe er sich getäuscht. Und eben die europäische Geschichte und eben dieses europäische Wunder einmal komplett ignoriert.
Zusammengefasst
Wir müssen nachdenken über Europa, ja, aber wir dürfen uns im Nachdenken auch nicht verlieren. Denn Europa ist nichts Selbstverständliches, für niemanden, für keinen, der sich Europäer nennt. Europa, das ist nicht nur eine Idee, sondern es ist eine Realität, mit der viele in Europa fremdeln, vermutlich weil zu wenig auf die ursprüngliche Idee Europas insistiert wird. Europa nimmt die Menschen zu wenig mit.
Beim Rausgehen traf ich auf der Treppe Gesina Schwan. Sie humpelte leicht, hatte sich am Fuß verletzt. Ich fragte sie, ob es ihr gefallen habe. Ja, antwortete sie, und schob einen Satz hinterher, der es in sich hatte. Europa muss aufpassen, sich nicht zu verlieren, seine Idee nicht auf dem Altar der Geschichte zu opfern – so meine Interpretation dessen. Europa mache derzeit viele Fehler, speziell in der Flüchtlingspolitik, zu viele, um die ursprüngliche Idee nicht zu beschädigen. Wir haben hier aber einen Satz des Preisträgers des diesjährigen Nationalpreises im Ohr. Anselm Kiefer wurde einmal gefragt, ob er Optimist oder Pessimist sei. Er antwortete darauf, er habe Hoffnung.