An einem Abend im Sommer saß ich mit Thomas Schiffelmann, Leiter Marketing von Handicap International zusammen. Er erzählte mir von einer Projektreise, und sofort kam uns eine Idee. Und wie das so ist mit Ideen, so sie gut sind, wird dann in der Regel auch was daraus. Gesagt, getan! Mittlerweile ist es Ende November und wir sind in Kambodscha, einem Land, das keine einfach verdauliche Vergangenheit hinter sich hat. Jedoch stimmen die Menschen für die Zukunft Kambodschas optimistisch.
Kambodscha verbinden Außenstehende heute vielleicht am ehesten mit zwei Dingen: Einmal dem 1979 abgelösten, unfassbar menschenverachtenden Terror-Regime der Roten Khmer, und zum Zweiten mit der Tempelanlage um Angkor Wat. Vergangenheit und Zukunft, in Kambodscha sind diese beide Pole eng miteinander verbunden. Die Tempel in Angkor Wat, inklusive der Schwester-Anlage in Angkor Thom, sind nicht nur beeindruckend groß und haben eine ganz eigene, vereinnahmende Atmosphäre, sie stehen auch für ein positives Gefühl, das man als Besucher für die Zukunft des südostasiatischen Landes mitnimmt.
Denn Angkor Wat ist für den Tourismus in Kambodscha so etwas wie das Oktoberfest für München: Angkor Wat ist Werbeträger und Einnahmequelle zugleich. Jeder, der einmal um kurz nach 6 Uhr am Morgen den Sonnenaufgang über der Haupttempelanlage in Angkor Wat im Kreise von mehreren hundert anderer Touristen fast schon bewundert hat, fährt von Siam Reap, der Stadt nahe den Tempelstätten, mit einem positiven Gefühl wieder zurück in die Heimat.
IN KAMBODSCHA RÜHRT SICH WAS
Dieses gute Gefühl speist sich aus den Begegnungen mit den Menschen vor Ort. Alle tun etwas, wollen etwas tun, es sind weder Bräsigkeit noch Resignation zu fühlen. Stattdessen macht sich rasch der Eindruck breit, Kambodscha baut sich mit schnellem Schritt eine bessere Zukunft. Natürlich, das klare Bekenntnis zum Tourismus bringt Probleme mit sich, wie etwa die enormen Mengen an Müll, die Notwendigkeit, die Gäste von A nach B zu transportieren, und auch einen erhöhten Bedarf etwa an Energie, da die Zimmer in den meist neu gebauten Hotels wie selbstverständlich mit Klimaanlagen ausgestattet sind und auch E-Roller (in Kambodscha E-Bikes genannt) im Straßenbild nicht mehr wegzudenken sind. Übrigens werden im Land auch Hybridfahrzeuge aktiv angepriesen – zur Testfahrt werden Interessierte via Megafon aufgefordert, lautstark und unüberhörbar. Und natürlich verändern die Städte in bisher noch nicht gekannter Geschwindigkeit ihr Gesicht. Aber für diese Probleme oder Veränderungen ist die Sensibilität schon recht hoch, unsere Führerin Sokha ist das beste Beispiel dafür.
Sokha wohnte einst in einem kleinen Dorf am Rande von Siam Reap, in einem dieser für Kambodscha (wegen der Regenzeit) typischen Pfahlhäuser. Das Haus gehörte den Eltern, bei oder mit ihr wohnten neben diesen auch die Großmutter und ihre Brüder. Letztere wohnten jedoch unter dem Haus, im Bereich der Pfähle. Eines Tages brannte das Haus ab, und sie entschloss sich, ein neues Haus für sich und ihre Familie zu bauen. Der Unterschied war nur: Da sie erfolgreich Touristen in deutscher Sprache durch ihre Heimat führte, konnte sie – in Relation zum kambodschanischen Durchschnitt – zu Wohlstand kommen. Ihren Vater kennt sie nicht, ebenso wenig den Tag, an dem sie geboren wurde. Dafür hat sie aber erstaunlich schnell und umfänglich deutsche Vokabeln aufgesogen und ist damit für deutsche Reiseveranstalter wichtige Ansprechperson für Reisegruppen aus Deutschland. Manchmal fehlen ihr ein paar Buchstaben, aus „jetzt“ wird „jet“, aus nicht wird „nit“, und aus „Sie passt auf die Kinder auf“ wird „Sie Kinder pass auf“; aber das macht die Reise umso sympathischer.
MIT DEN MINEN BEGANN DIE ARBEIT
Denn Sokha erzählt uns Geschichten nicht aus einem Land, sondern aus ihrem Land. Und eine dieser Geschichten hat mit Handicap International zu tun. In Kambodscha wurden einst durch Bürgerkrieg, Vietnamkrieg, Rote-Khmer-Terrorregime und Bürgerkrieg nicht Hunderte oder Tausende, sondern zehntausende Landminen vergraben. Bis heute gibt es Sperrgebiete, in denen nach wie vor nicht klar ist, wie viele Minen dort wo liegen und wer diese jemals beseitigen soll. Mit diesen Minen begann aber Mitte der 80er Jahre, genauer ab 1982, die Arbeit von Handicap International, denn den französischen Ärzten Jean-Baptiste Richardier und Claude Simonnot war es ein Graus mit ansehen zu müssen, wie vor allem die Kinder unter dieser unsichtbaren Gefahr zu leiden haben. Immer wieder passierten Unfälle, wurden Beine zerfetzt. Heute betreibt Handicap International unter anderem ein Rehabilitationszentrum in Kampong Cham, etwa 80 Kilometer nordwestlich der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Genau dorthin werden wir in den nächsten Tagen unter anderem aufbrechen.
ZUSAMMENGEFASST
Kambodscha war eines der ärmsten Länder der Erde, obwohl es im 12ten Jahrhundert einst das größte und erfolgreichste asiatische Reich gewesen war (dazu mehr im Bericht zu Tag 2 der Projektreise). Nach Bürgerkrieg, Verstrickung in den Vietnamkrieg und den Jahren des Rote Khmer-Regimes fand das Land aber wieder zurück auf den Entwicklungspfad. Seit 20 Jahren wächst die Wirtschaft unaufhörlich, wird den Menschen im Land damit auch eine Zukunft gegeben. Kambodschaner sind dazu sehr fleißig. Handicap International ist seit mehr als 30 Jahren im Land aktiv, und was als Minenräumaktivität begann, ist heute weitaus mehr. Genau davon soll die Projektreise in vielen Facetten erzählen.
Die Projektreise mit Handicap International nach Kambodscha vom 20.11. bis 30.11.2019 macht mit Siam Reap und Phnom Penh in den beiden wichtigsten Städten des Landes Station. Vor Ort konnte sich Tobias Karow einen umfassenden Eindruck der Projektarbeit von Handicap International in Kambodscha verschaffen.