Mehr Realismus bitte!

Wie Prof. Harald Welzer von der Stiftung FuturZwei beim FAROS Institutional Investors Forum die Zeitenwende für die Welt einschätzt

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Zeitenwende
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Prof. Harald Welzer ist Transformationsforscher. Er ist also ein gefragter Gesprächspartner in einer Zeit, in der die Welt über eine der wohl umfassendsten Transformation ihrer Geschichte spricht. Wobei, ist die Geschichte der Welt nicht eine des Wandels, der fortwährenden Transformation? Auf dem FAROS Institutional Investors Forum in Frankfurt am 18.11.2021 hielt Harald Welzer die Keynote und stellte eine Frage, um die sich letztlich alles dreht: Wie machen wir Ökonomie weniger zerstörerisch? Er lieferte Antworten, die unangenehm waren, und die Stiftungslenkerinnen und -lenker sicherlich zum Nachdenken anregen.

Das Forschungsfeld der Transformationsforschung ist ein spannendes. Sie fragt danach, wie sich moderne Gesellschaften verändern können und müssen, beispielsweise unter der Bedingung der Nachhaltigkeit. Prof. Harald Welzer ist einer der prominentesten Vertreter dieser Forschung in Deutschland, und er dampfte das Wesen der anstehenden Transformation in seinem Vortrag auf eine auf den ersten Blick einfache Frage ein: „Wie können wir Gesellschaften motivieren, bestimmte Verhaltensweisen abzulegen oder neu anzunehmen.“ Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil die Gemengelage keine komplizierte, sondern eine komplexe ist. Prof. Harald Welzer, seines Zeichens Direktor der Stiftung FuturZwei (deren Stiftungswebsite wir jüngst einer ultimativen Stiftungswebsite-Lobhudelei unterzogen), verwendet zur Beschreibung dessen Vokabeln wie „fragil“ oder „nicht handlungsfähig“.

TRANSFORMATION IST NOCH NIE VORAUSGESEHEN WORDEN

Was er meint ist das System als Ganzes, und Corona ist wie der anzuführende Beweis dafür. Corona kam völlig überraschend, so wie Transformation noch nie vorhergesehen wurde. „Das sei“, so Welzer, „der einzig stabile Befund, dass Transformationen noch nie vorausgesehen wurden.“ Für ihn trifft Corona die westliche Welt in einer Zeit, in der sich die „geopolitische Konfiguration komplett geändert hat.“ Demnach kommen wieder vermehrt totalitäre Regierungen an die Macht und an die Märkte, fangen dort an Dominanz zu entfalten. Die „Rückkehr von Wahnsinnigen an die Spitze von Staaten“, die Rückkehr von Gewalt, das kennzeichne die neue Geostatik. Die westliche Welt sei überrascht vom Handeln Lukaschenkos, der sich nicht an Regeln hält, und sei vereint im Nichthandeln. Afghanistan führte Harald Welzer als weitere Beispiel für das sich ‚gegenseitig blockieren‘ an.

ALLES IST NOCH IN EINER STEIGERUNGSLOGIK

Nicht zuletzt sei in der westlichen Welt „alles noch in einer Steigerungslogik gefangen“, die Dekarbonisierungsstrategie würde nur eine Facette des Systems betreffen. An diesem Punkt wurde es sehr spannend, denn hier formulierte der Transformationsforscher eine Wunschliste an die Politik, der er die Überschrift „Mehr Realismus, bitte“ verpasste, oder sagen wir, man könnte ihr diese Überschrift verpassen. Denn für Harald Welzer ist eines klar: „Auf die Probleme wird nicht adäquat reagiert. Wenn das nicht passiert, werden sich die Probleme stetig verschärfen. 2022 ist das Jahr mit dem höchsten Verbrauch von Kohle im Jahr. Mehr Kohle heute bedeutet Verschärfung der Probleme in 2050. Wachstum bedeutet mehr Verbrauch, mehr Verbrauch braucht mehr Energie, mehr Aufwand für Verbrauch, die externen Kosten werden einfach nicht angeschaut.“

HARALD WELZER WÜNSCHT SICH MEHR REALISMUS IN DER POLITIK

Realismus, realistisch sein entlang dessen, das fehlt ihm, und als Zuhörer konnte man ihm sehr gut folgen bei seiner Forderung nach mehr Realismus. Denn die Probleme, die wir im 21ten Jahrhundert haben und haben werden, verlangen das schlichtweg. Harald Welzer richtete fast schon einen Appell an die Politik: „Ein intaktes Klima ist die notwendige Bedingung dafür, dass wir unser Gesellschaftsmodell überhaupt aufrechterhalten können. Unter Bedingungen verschärften Umweltstresses wird das nicht möglich sein.“, und redete damit der Wachstumsparanoia das Wort: „Wachstum ist kein Glaubenssystem. Wachstum war super, es führte zu materiellen und immateriellen Gewinnen. Wenn eine Wachstumsstrategie aber mit der Endlichkeit von allem konfrontiert ist, dann geht es so nicht weiter.“

IM ERFOLG IST DER MISSERFOLG BEREITS EINGEBAUT

Als Beispiel führte er die Osterinseln an, die auf entstehende Umweltprobleme mit der Übernutzung ihrer natürlichen Ressourcen reagierten. Sie machten das, was sie einst erfolgreich gemacht hatte, nun noch intensiver, noch hemmungsloser, und fuhren damit die gesamte Zivilisation an die Wand. Sind wir schon an dem Punkt, konnte bzw. könnte man sich fragen, während man Prof. Welzer zuhörte. Sind wir schon am Point of no Return? Im Erfolg unseres Gesellschaftsmodell sei auf jeden Fall schon der kommende Misserfolg mit eingebaut, so Welzer weiter, denn der Erfolg sei so nicht fortzuschreiben. In welcher Biografie hat sich nicht etwas Positives niedergeschlagen vom Erfolg des großen Ganzen? Wer habe nicht vom Fahrstuhleffekt profitiert, fragte Welzer in die Runde der Anwesenden. Realistisch betrachtet müsse sich die Politik aber künftig weniger um die soziale, sondern die ökologische Frage kümmern.

WIR MÜSSEN DIE ÖKOLOGISCHE FRAGE IN DEN GRIFF BEKOMMEN

Die ökologische Frage sei aber laut Welzer nun ein Problem, das neu ist, auch wenn Politik und Gesellschaft schon seit Jahren darüber sprechen. Das Problem an diesem neuen Problem sei, dass sich unser Typ Gesellschaft, der rund 200 Jahre alt ist, eigentlich immer vordringlich um die soziale Frage gekümmert hat. Das Entstehen unserer Gesellschaft war immer „begleitet von Konflikten um die Arbeitswelt“, so Welzer, „die Politik sei gewissermaßen darauf konditioniert, dieses Problem zu bewältigen.“ Und klar, bei allem was wir bislang zuvor geschrieben haben stellt sich nun die Frage, ob unser System in der Lage ist, dieses ökologische Problem in den Griff zu bekommen. Angesichts des Corona-Managements kann einem da angst und bange werden, wobei es Harald Welzer etwas anders formulierte: Er wünsche sich eben genau „mehr Realismus“ von der Politik.

DIE BEVÖLKERUNG IST DURCHAUS AUCH KONFLIKTBEREIT

„Die Bevölkerung ist keine Kindertagesstätte, nicht alle müssen happy sein, sondern es wäre schön anzuerkennen, dass die Bevölkerung auch konfliktbereit ist.“ Für Harald Welzer wäre es gut, zu sagen was Sache ist, und dieser Faden lässt sich weiterspinnen. Wenn das Vertrauen in das System schwindet, dann kann an so einem wichtigen Punkt, an dem sich unsere Gesellschaft, ja unsere Zivilisation gerade befindet, die Wahrheit (oder Realismus) etwas Vertrauen-stiftendes sein. Allerdings werde genau das nicht getan, führte Welzer aus und bezog sich das dabei auch auf die (sich vermutlich zusammenfindende) neue Ampelkoalition: „Migration, Außenpolitik, beides sind ein Riesenproblem, werden aber von der (vermutlich neuen) Koalition nicht aufgegriffen.“ Es fehlt die Ehrlichkeit der Politik.

NEUER REALISMUS IM STIFTUNGSVERMÖGEN?

Wenn wir nun diese zentralen Begriffe aus dem Impuls von Prof. Harald Welzer mal auf den Stiftungssektor übertragen, und da wir auf dem FAROS Institutional Investors Forum waren beziehen wir dies auf die Sphäre des Stiftungsvermögens, dann sind es drei Begriffe, entlang derer sich Stiftungen Gedanken um ihr Stiftungsvermögen machen können: Ehrlichkeit, Erfolg, Realismus. Zugegeben, hier veranstalten wir jetzt einen Übersetzungsversuch eines tollen Vortrags in die Stiftungspraxis, aber wir wollen wagen. Angefangen bei der Ehrlichkeit. Stiftungen sollten ehrlich zu sich sein und fragen, ob die Ziele in der Zukunft noch zu den Mittelzuflüssen aus der Verwaltung des Stiftungsvermögens passen. Habe ich 4% als Ziel, schaffe aber qua 90% Anleiheanteil nur mehr 0,6%, dann passt das nicht.

ERTRAGREICH UND SICHER SIEHT MORGEN ANDERS AUS

Korrigierend eingreifen lässt sich hier beim Ziel, dieses lässt sich eindampfen, oder bei der Vermögensaufteilung, die eben dann Aktien, Immobilien, Infrastruktur, Mikro- oder Middle-Class-Kredite braucht. Damit gelangen wir zu Erfolg. Bislang war es so, dass es eine solche Asset Allocation (=Vermögensaufteilung) nicht brauchte. Anleihen brachten 4%, liefen sie aus, kaufte ich neue, und die lieferten wieder irgendwie etwas um die 4% p.a.. Das war erfolgreich, das hat super funktioniert, und es war die perfekte Strategie für Stiftungen und ihre Verantwortlichen. Ertragreich und sicher konnte eins zu eins übersetzt werden in die Anleihe. Das war erfolgreich, muss aber nicht erfolgreich bleiben, insbesondere wenn Stiftungen jetzt anfangen, die Anlageklasse Anleihen überzunutzen, um das Osterinsel-Beispiel zu bemühen.

DIE LETZTEN 50 JAHRE SIND KEIN MASSSTAB MEHR

Natürlich kann ich statt Staatsanleihen andere Anleihearten und -strategien in Stiftungsvermögen einbauen, aber eben allein auf die Anleihe zu setzen, das kann ausgehend von dem was vor uns liegt ein Fehler sein, Und zwar ein recht grober. Natürlich gehört die Anleihe weiter ins Stiftungsvermögen, aber eben mit Bedacht, mit Kopf, mit Augenmaß – und mit professioneller Hilfe. Was uns zum Realismus bringt. Es ist nicht stiftungs-like, die neue Gemengelage kleinzureden und im Stiftungsvermögen nur so n‘ bisschen was auszuschließen. Das hochgerechnet, also das was auf uns zukommt und was Prof. Welzer trefflich zusammengetragen hat, wird das Agieren an den Märkten weitaus schwieriger werden als in den letzten nicht 5 sondern 50 Jahren.

ANLAGERICHTLINIE WIRD IMMER MEHR ZUM ‚MUST HAVE‘

Auch an den Kapitalmärkten wird die Transformation ankommen, als Chance, aber vor allem als neue Realität. Wer dann nicht vorbereitet ist, für den dürfte diese neue Realität wie ein Tsunami sein. Und der kann auch Stiftungsvermögen unvermittelt treffen. Wir versuchen wieder zu übersetzen: Wer dann keine Anlagerichtlinie bei der Hand hat, wer dann keine Szenarien für „Was machen wir wann?“ zurechtgelegt hat, wer dann monoton in einer Anlageklasse investiert bzw. gefangen ist, den dürfte die neue Realität auf dem falschen Fuß erwischen. Wenn eine Stiftung darauf mit einem ‚Weiter so‘ reagiert, und bspw. auch kein Argumentarium gegenüber der Hausbank parat hat, warum das Portfolio mit den Hausbank-Fonds allein nicht die Lösung sein kann, der dürfte zu den – zumindest im ersten Moment – Gekniffenen gehören.

ZUSAMMENGEFASST

Mehr Realismus wünschte sich Prof. Harald Welzer in seiner aufrüttelnden Keynote zu Beginn des FAROS Institutional Investors Forums, und vereindringlichte, dass es ein ‚Weiter so‘ unserer Ökonomie nicht geben kann. Nur zu dekarbonisieren und den Rest des Wirtschaftslebens in der Steigerungslogik zu belassen, das wird unserer Zivilisation früher später die Lebensgrundlage rauben. Genau diesen Realismus vermisst der Transformationsforscher auf Seiten der Politik, und Realismus ist vielleicht auch ein roter Faden für das Verwalten des Stiftungsvermögen in den nächsten 100 Jahren. Sagen, was Sache ist, das wünschte sich Harald Welzer in seinem Impuls, und das würde sicherlich auch so manches Stiftungsvermögen voranbringen. Denn mehr Realismus zahlt auf eines ein, und das ist die Resilienz, mehr Realismus würde Stiftungsvermögen weniger verletzlich machen. Aber wie das mit dem Realismus so ist: Erstmal gewinnt man mit dem weder Wahlen, noch Blumentöpfe.